Typische Wintervögel | Natur-Bericht von Prof. Dr. Martin Kraft
Typische Wintervögel
von Prof. Dr. Martin Kraft
MIO – Marburger Institut für Ornithologie und Ökologie e.V.
Inzwischen hat sich im Zuge des Klimawandels einiges bei den „typischen Wintervögeln“ geändert. Das hat vor allem mit anderen Zugzeiten und auch anderen Zugstrategien zu tun. Viele Menschen füttern die Vögel das ganze Jahr über, aber die meisten nur im Winter.
Alle Vögel, die sie dann den ganzen Winter über an ihren Futterhäuschen sehen, sind in der Regel Standvögel, die ganzjährig bei uns vorkommen, aber wenn man Vögel beringt, merkt man bald, dass die vermeintlich selben Vögel gar nicht dieselben sind, sondern verschiedene Individuen. Nehmen wir mal als Beispiel das Rotkehlchen sowie die Blau- und die Kohlmeise. Bei diesen Arten, aber auch bei weiteren Arten, sind sowohl heimische Vögel an Futterhäuschen anwesend als auch zugewanderte, die nur den Winter bei uns verbringen und aus nördlicheren Gefilden stammen. Unter den sehr hübschen Gimpeln fallen manchmal etwas größere Individuen auf, deren Männchen noch intensiver rot an Brust und Bauch gefärbt sind. Diese äußern dann oft einen Ruf, der an eine Kindertröte erinnert und deshalb werden diese Vögel als „Trötergimpel“ oder „Trompetergimpel“ bezeichnet. Sie kommen aus Skandinavien und Westrussland und sind nicht in jedem Winter anzutreffen. Dann gibt es die Invasionsvögel, die nur in bestimmten Jahren bei uns auftauchen, wovon vor allem Seidenschwänze, Bergfinken und Birkenzeisige betroffen sind. Vor allem Bergfinken können in manchen Wintern millionenstarke Schwärme bilden, die vielfach nicht mal annähernd quantifiziert werden können, weil es unendlich groß scheinende Schwärme sind, die in unseren Wäldern Bucheckern verzehren.
Dabei sind sie oft mit Scharen von Buchfinken vergesellschaftet. Bei den Buchfinken überwintern überwiegend Männchen, wenngleich der Anteil der Weibchen von Jahr zu Jahr größer wird. Typische Wintervögel an den Küsten oder im Umfeld von Gewässern sind Sing- und Zwergschwan, Bläss-, Kurzschnabel-, Ringel-, Saat- und Weißwangengans, die aus nördlicheren und östlichen Breiten bei uns einfliegen, aber auch die Trupps von Höckerschwänen, Grau-, Nil- und Kanadagänsen nehmen im Winter deutlich zu. Auf unseren Flüssen und Seen finden sich im Winter vor allem Gänse-, Mittel- und Zwergsäger, Berg-, Eis-, Samt-, Schell-, Trauer- und Samtenten ein. Besonders beeindruckend sind winterliche Einflüge von Eis-, Pracht- und Sterntauchern und manchmal zeigen sich auch Ohrentaucher in größeren Mengen. Es ist so, dass sich die bei uns auf Gewässern konzentrierenden heimischen Entenvögel mit vielen nordischen Gästen vermischen. Fällt viel Schnee in der norddeutschen Tiefebene, so kommt es auch im Binnenland zu starken Einflügen, vor allem wenn dort weniger Schnee liegt. Im Marburger Raum geschah das im Januar 1987, den ich nie vergessen werde, weil er einzigartig war, denn in der offenen Kulturlandschaft zeigten sich große Mengen von Saat- und Blässgänsen, aber auch Raufußbussarde Kornweihen und Sumpfohreulen traten in zwei- bis dreistelligen Zahlen auf. Besonders beeindruckend waren teilweise hunderte von Ohrenlerchen und Berghänflingen sowie einige Schnee- und Spornammern, die sonst nur hauptsächlich an den Küsten überwintern. Leider habe ich einen derartigen Januar nie wieder erlebt. Besonders spannend wird es, wenn sich die sehr seltenen Einflüge Sibirischer Tannenhäher zeigen oder wenn sehr seltene Arten wie Hakengimpel oder Taigazilpzalp auftauchen.
Diese Ausnahmen sind immer sehr aufregend, aber auch die typischen Wintervögel lassen sich bei uns an Futterstellen, an Gewässern und im weiten Offenland gut beobachten. Der Klimawandel hat aber auch dafür gesorgt, dass immer mehr Brutvogelarten in zunehmender Zahl bei uns überwintern, die früher noch in den Mittelmeerraum oder nach Afrika zogen. Dazu zählen u.a. Haubentaucher, Kormoran, Silberreiher, Weißstorch, Rotmilan, Kranich, Kiebitz, Bekassine, Waldwasserläufer, Hohltaube, Feldlerche, Zilpzalp, Mönchsgrasmücke, Sommergoldhähnchen, Star, Mistel-, Rot- und Singdrossel, Schwarzkehlchen, Hausrotschwanz, Wiesenpieper, Bachstelze, Girlitz, Bluthänfling und Rohrammer.
An all den Beispielen sehen wir, dass die Biologie sehr dynamisch ist und damit Veränderungen völlig normal sind, denn auch Vögel müssen sich an die neuen Bedingungen anpassen, um langfristig überleben zu können. Dennoch ist es für uns Menschen besonders wichtig, unsere selbst gemachten Natur- und Umweltschädigungen deutlich zu reduzieren!
Stieglitz und Erlenzeisig
Einer unserer schönsten Singvögel ist der bunte Stieglitz Carduelis carduelis, der in den letzten Jahren dramatische Bestandsrückgänge zeigte, neuerdings aber Gottseidank wieder häufiger anzutreffen ist. Sein zweiter Name „Distelfink“ deutet auf seine Vorliebe für Distelsamen hin. Diese nutzt er auch im Spätherbst und Winter, aber man kann ihn auch auf Sonnenblumenfeldern oder an Erlen sehen. Dabei kann er durchaus sehr große Trupps von mehreren tausend Vögeln bilden. Viele nordische, aber auch mitteleuropäische Vögel ziehen im September/Oktober nach SW bis in den Mittelmeerraum. Sein bevorzugter Lebensraum sind Ortschaften mit warmen Brachflächen und alten Bäumen. Oft brütet er in Obstbäumen, vor allem in Kirschen. Der Name Stieglitz leitet sich von seinem ähnlich klingenden Ruf ab, den er auch in seinen abwechslungsreichen Gesang einbaut.
Jetzt im Winter findet man Stieglitze oft in Gesellschaft des noch etwas kleineren Erlenzeisigs Carduelis spinus in gemischten Schwärmen an Erlensamen. Im Gegensatz zum Stieglitz brütet der Erlenzeisig bei uns vorwiegend in den Mittelgebirgen und in anderen Bergregionen mit viel Nadelholz sowie in Nord- und Osteuropa. Als Brutvogel ist er in Mitteleuropa aber deutlich seltener als der Stieglitz. Manchmal ziehen Erlenzeisige schon ab etwa Mitte September in großen Schwärmen Richtung SW, aber in diesem Jahr waren es nur wenige, die aktiv durchgezogen sind. Bei der Auswertung meiner langjährigen Zugvogelerfassungen stellte sich heraus, dass zu etwa 80% strenge Winter folgten, wenn ein starker Durchzug der Erlenzeisige stattfand. Dies würde bedeuten, dass uns ein eher milder Winter erwartet. Dieser aktive Durchzug darf nicht mit invasionsartigen Einflügen im Winter verwechselt werden, denn diese vollziehen sich fast in jedem Jahr.
Wie der Stieglitz kann auch der Erlenzeisig im Winter eine Art „Massengesang“ äußern. Geschickt hängen diese kleinen Vögelchen an Erlensamen, aber beide Arten sind auch regelmäßige Gäste an Futterhäuschen, wobei sie sowohl Körnerfutter als auch Fettfutter vertilgen. Futterspender, Meisenknödel und Energiekuchen sind dabei besonders beliebt. Übrigens wurden früher beide Arten sehr oft als Käfigvögel gehalten, was glücklicherweise nicht mehr ganz so beliebt zu sein scheint. Allerdings muss man dazu sagen, dass sie sich sehr leicht in Voliéren halten und züchten lassen. Da spreche ich aus jahrelanger Erfahrung, denn ich hatte früher viele Erlenzeisige und Stieglitze in meinen großen Voliéren.
Neben dem Stieglitz und dem Erlenzeisig gibt es aber noch eine weitere Art, die in manchen Wintern in großen Scharen auftaucht, nämlich den Birkenzeisig Carduelis flammea. Dabei unterscheidet man die etwas kleinere und bräunlichere Unterart C. f. cabaret (“Alpenbirkenzeisig“), die auch bei uns in Europa brütet sowie die hellere und etwas größere Nominatform C.f. flammea (“Taigabirkenzeisig“). Diese “Taigabirkenzeisige“ fliegen in manchen Wintern in großer Zahl aus dem hohen Norden bei uns ein. Manche Männchen haben eine ausgedehnt rote Brust und alle haben eine rote Stirn, ein schwarzes Kinn und einen kleinen, gelblichen, kegelförmigen Schnabel. Im vergangenen Winter 2017/18 fand ein großer Einflug statt, der aber womöglich in diesem Winter sogar noch übertroffen wird?! Mit sehr großem Glück kann man unter den vielen Taigabirkenzeisigen auch den noch helleren Polarbirkenzeisig Carduelis hornemanni entdecken. Diese Art brütet in den Tundren Skandinaviens und Russlands und ist bei uns nur eine Ausnahmeerscheinung. Er ist wesentlich heller, hat einen ungestrichelt weißen Bürzel und hat nur selten eine auffällige Flankenstreifung (nur bei einigen Jungvögeln im 1. Winter) und einen noch kleineren, gelblichen Schnabel. Adulte Männchen sind hellrosa auf der Brust. Auch Birkenzeisige besuchen regelmäßig Futterhäuschen und sind oft mit Stieglitzen und Erlenzeisigen vergesellschaftet. Sie bevorzugen Birkensamen, sind aber im Winter regelmäßig auch an Erlen anzutreffen.
Es lohnt sich immer, an Futterplätzen einfallende Finken genauer anzuschauen, denn dort herrscht ein buntes Treiben der unterschiedlichen Arten. Auch Buch-, Berg- und Grünfinken, Kernbeißer, Gimpel und Bluthänflinge finden sich dort ein. Streuen Sie immer auch Futter auf den Boden und verteilen sie viele Futterautomaten, um viele Arten anzulocken!
Prof. Dr. Martin Kraft